Sein Wand-Paneel stand im Schauraum der Firma Olivetti in New York, er war mit dem Architekten Le Corbusier befreundet und unterrichtete Kunstwissenschaft an der Columbia University. An welchen Künstler denkt ihr bei diesen Referenzen? Wahrscheinlich nicht an Costantino Nivola aus Orani. Trotzdem hat der gebürtige Sarde eine steile Karriere in den USA hingelegt. Hier stelle ich sechs Künstler und Künstlerinnen aus Sardinien vor.
1) Costantino Nivola – Bildhauer aus Orani
Gemälde, Keramiken, Skulpturen, Installationen und Sand-Castings: Was Costantino Nivola der Nachwelt hinterlassen hat, ist ein großer und teilweise nur wenig bekannter Schatz. Nivola wurde am 5. Juli 1911 in Orani als Sohn eines Maurers geboren. Nach der Grundschule zog er nach Sassari, wo er als Lehrjunge beim Maler Mario Delitala arbeitete. 1931 gewann er ein Kunststipendium in Monza. Hier studierte er zunächst Malerei, bevor er sich dem Grafikdesign zuwandte. 1938 heiratete er seine jüdische Studienkollegin Ruth Guggenheim. Um der antisemitischen Verfolgung zu entkommen, floh er mit ihr aus Italien zunächst nach Frankreich, später nach New York. Hier war Nivola als künstlerischer Leiter für die Zeitschrift „Interiors and Industrial Design“ tätig und schloss unter anderem mit Le Corbusier und Saul Steinberg Freundschaft. 1948 zog er nach East Hampton, in Long Island, wo er Jackson Pollock und Bernard Rudofsky kennen lernte. Vor allem seine Technik des Zementgusses auf modelliertem Sand hat ihm die Bewunderung seiner Künstlerfreunde und den Titel „Meister des Sand-Castings“ eingetragen. Tatsächlich war es eine Zufallserfindung. Eigentlich wollte Nivola in den späten vierziger Jahren nur mit seinen Kindern am Strand spielen. Dazu zeichnete er Formen und Figuren in den Sand. Aus den vermeintlichen Kinderbildern entwickelte er schließlich Betonplatten mit skulpturartigen Reliefs, die sogenannten Sand-Castings. In seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Techniken und Materialien hat Nivola die Eigenständigkeit seines Werkes eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Bei den Themen kreist seine Kunst meistens um die Schönheit und die Herrlichkeit der Magna Mater, der als Lebensspenderin verehrten Muttergöttin. Nivola starb nach langem Krebsleiden am 6. Mai 1988 in Long Island.
Meine Empfehlung: Im Museo Nivola in Orani auf eine spannende Zeitreise gehen.
2) Grazia Deledda – Schriftstellerin aus Nuoro
Grazia Deledda (1871-1936) war eine große Schriftstellerin. 1926 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Und damit ganz Sardinien. Bereits als Schülerin war ihr bewusst, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Ihr Vater war ein wohlhabender Unternehmer aus Nuoro, der für seine Tochter allerdings ein Leben als Ehefrau mit Kindern vorgesehen hatte. Doch Deledda rebelliert und beginnt mit 17 Jahren zu schreiben. Ihre ersten Romane erschienen als Fortsetzungsgeschichten in verschiedenen Illustrierten. Der Durchbruch kam 1903 mit dem Roman „Elias Portolu„. Da war sie schont drei Jahre mit Palmiro Madesani, einem Beamten des Finanzministeriums, verheiratet und lebte in Rom. Es war der Beginn eines Weges, der sie 23 Jahre später „aufgrund ihrer tiefgehenden Schilderung menschlicher Probleme“ bis zum Literaturnobelpreis führen sollte. Die von der Jury der Schwedischen Akademie gewürdigten atmosphärisch dichten Passagen über Schicksale, Traditionen und Mythen im Sardinien des 20. Jahrhunderts finden sich auch in ihrem Roman „Schilf im Wind“ wieder. Das Werk erzählt die vom Schicksal bestimmte Geschichte, der ehrenwerten Familie Pintor. Handlungsort ist ein kleines Dorf an der Ostküste Sardiniens, das einiges an archaischen Traditionen und bäuerlichen Gepflogenheiten zu bieten hat. Die Ehre der Familie zu verteidigen ist die oberste Pflicht jedes Mannes. So sieht es Don Zame, das rechthaberische Oberhaupt der Familie. In seinem Hochmut zwingt der Patriarch seiner vier Töchter wie die Nonnen eines Klausurordens das Haus nicht zu verlassen und sich den häuslichen Aufgaben zu widmen. Lia, seine dritte Tochter entzieht sich diesem Zwang, flüchtet aufs italienische Festland, heiratet, gebärt einen Sohn und stirbt. Beim Versuch die vermeintliche Schmach zu vergelten wird Don Zame am Ortsausgang des Dorfes Tod aufgefunden. Lesenswert!
Meine Empfehlung: Im Museo Deleddiano, dem Elternhaus der Deledda in Nuoro, auf den Spuren der Schriftstellerin wandeln.
3) Pinuccio Sciola – Muralist aus San Sperate
Entschlossen, abgeklärt und engagiert: Auch Pinuccio Sciola (1942–2016) gehörte zu den ganz großen Künstler und Künstlerinnen aus Sardinien. 1968 initiierte er in San Sperate den sardischen „Muralismo“. Etwa 320 Bilder wurden bisher an die Wände seines Heimatdorfes gepinselt. In den 70er Jahren griff der „Muralismo“ aus San Sperate auf das Bergdorf Orgosolo über. Hier machten die „Murales“ der ersten Stunde einer nicht mehr nur sozial, sondern auch politisch engagierteren und aufständischen Wandmalerei Platz. Ab Mitte der 90er Jahre wollte Sciola den als leblos und stumm empfundenen Steinen eine Stimme verleihen. Er wollte ihre Transparenz und Elastizität zum Vorschein bringen, zu ihren Schwingungen vorstoßen, so wie er es vor langer Zeit bei den Mayas in Peru bewundert hatte. Sciola begann Linien und gitterförmige Muster in Kalksteine sowie Basaltbrocken zu fräsen und fand heraus, dass die Tiefe der Einkerbungen oder die Abstände der schachbrettartigen Zäpfchen den Ton bestimmen. Ein C erklingt, wenn der Längseinschnitt 34 cm tief und 6 mm breit ist, ein D ertönt bei einem 31 cm langen Einschnitt und einer Breite von 4 mm. Doch auch die Art, Größe und Form des Steines intoniert den Laut. Noch heute verwenden zeitgenössische Komponisten und Musiker, wie beispielsweise Paolo Fresu, diese Töne und Resonanzen für moderne Kompositionen.
Meine Empfehlung: Im Freilichtmuseen Giardino Sonoro in San Sperate bekommen Besucher einen guten Überblick über das Werk Sciolas.
4) Chaira Vigo – Muschelseide-Spinnerin aus Sant‘Antioco
Im Südwesten von Sardinien, auf der Isola di Sant’Antioco, lebt die größte Muschel des Mittelmeers – die Pinna Nobilis, auch edle Steckmuschel genannt. Sie steckt aufrecht mit der Spitze in küstennahen Sandgraswiesen und verankert sich mit ihren feinen Faserbärten im sandigen Meeresboden. Heute ist die früher häufig vorkommende Muschel durch Wasserverschmutzung und Überfischung eher selten geworden. Ihre kostbaren Haftfäden liefern Chiara Vigo, Jahrgang 1955, das Material für die seltene Muschelseide, aus der sie golden schimmernde Stoffe webt. Stundenlang spinnt Chiara die hauchdünnen Fasern und verliert dabei nie den Faden. Daraus entstehen hochwertige Wandteppiche und edle Stickarbeiten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Vigo nicht die einzige Muschelseide-Spinnerin in Sant’Antioco ist, wie sie auf ihrer Webpage behauptet. Checkt man das kurz mal gegen, landet man schnell bei einer kleinen Webschule, die bis in die späten dreißiger Jahre von Italo Diana betrieben wurde. Hier lernte nicht nur Vigos Großmutter das alte Handwerk, sondern auch Efisia Muroni, die das Erlernte an die Schwestern Pes weitergab. Bis heute weben auch Assuntina und Giuseppina Pes noch Byssusstoffe. Wirklich einzigartig ist hingegen, dass ausschließlich Vigo Einblicke in die Arbeit der Muschelseidenweberei gibt.
Meine Empfehlung: Chiara Vigo in ihrem Atelier in Sant’Antioco bei der Arbeit zuschauen.
5) Paolo Fresu – Jazz-Trompeter aus Berchidda
Paolo Fresu, Jahrgang 1961, wuchs in Berchidda, einem 2600-Seelen-Dorf zu Füßen des Limbara-Gebirges auf. Er brillierte früh mit der Trompete und spielte in der Dorf-Band, bevor er professioneller Jazzmusiker wurde. Die Namen seiner Alben und Quartette kennt nicht jeder, aber sein Open-Air-Festival „Time in Jazz“ dürfte für Musikfans eine Entdeckung sein. Zumindest, wenn man neben elegantem Trompetenschall Begegnungen mit Dorfbewohnern und inseltypisches Essen schätzt. Dass das von Fresu initiierte Festival viele anspricht, ist alljährlich Mitte August in Berchidda zu erleben. Da kommen bis zu 30.000 Menschen zu den Straßenparaden und Konzerten des größten Jazz-Festivals auf Sardinien. Und das sind nicht nur Jazz-Fans oder betagte Besucher. Die Veranstaltung zieht auch viel junges Publikum an. Die Begeisterung für das Festival zeigt, dass es auch ein Hörerpotential für entspannende und anregende Musik abseits vom Mainstream gibt. Das haben inzwischen auch die Musiker erkannt. Denn nicht nur Künstler und Künstlerinnen aus Sardinien rennen Fresu die Türen ein, sondern auch etablierte Stars aus der ganzen Welt, die sich auf der Berchiddeser Bühne präsentieren wollen. Seit Fresus Italien-Debüt 1982 bei den Aufnahmen der Rai (öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Italiens) ging es auch mit seiner internationalen Karriere steil bergauf. Er gastiert in großen internationalen Orchestern und sammelt weltweit Preise.
Meine Empfehlung: Vom 7. bis 16. August 2021 bei Time in Jazz das Tanzbein in Berchidda und Umgebung schwingen.
6) Maria Lai – Vertreterin der „Arte Povera“ aus Ulassai
Bildkompositionen, Kinderreime, genähte Märchen und Bücher, in die unlesbare Zeilen eingestickt sind: Maria Lai (1919–2013), die Vertreterin der italienischen „Arte Povera“ feierte mit armer Kunst große Erfolge. Die zierliche Sardin aus Ulassai, die keine Kunst um der Kunst willen produzierte, verwendete für ihre Werke und Installationen alltägliche und gewöhnliche Materialien. Seit 2006 gibt es in Ulassai ein Museum, das Lai gewidmet ist, die „Stazione dell’Arte. Die Werke der Sammlung stammen aus einer Schenkung der Künstlerin. Hier geht es zum Maria-Lai-Beitrag.
Meine Empfehlung: Der Stazione dell’Arte in Ulassai einen Besuch abstatten.