Zu den Besonderheiten auf Sardinien zählt am Karfreitag die Kreuzabnahme Jesu und die sich daran anschließende Prozession durch die Gassen der Altstadt. Tausende Sarden verlassen jedes Jahr am Freitag vor Ostern ihre Häuser, um sich mit ihren Familien in den Dörfern und Städten dem Strudel der Gefühle hinzugeben.
Anderthalb Stunden dauert die traditionelle Darstellung S’Iscravamentu in Scano di Montiferro, einem 1470-Seelen-Dorf an der Westküste von Sardinien, zu Füßen des gewaltigen Basaltmassiv Montiferru. Neben gezielt eingesetzten dramaturgischen Elementen, bedienen sich die Priester und Bruderschaften außerdem ausdrucksstarker polyvokaler Chorgesänge, um die Gefühle der Gläubigen einmal mehr anzusprechen.
Die Kreuzweg-Prozession: Sas Chilcas (die Suche)
Am Karfreitag herrscht in Scano di Montiferro schon am Morgen rege Geschäftigkeit. Bruderschaften und Gläubige laufen durch die Straßen des Weilers und ziehen von Kirche zu Kirche. Der Zug mit der suchenden Schmerzensmutter ist mehrere Meter lang und vergegenwärtigt den Leidensweg Jesu. Maria begegnet ihrem Sohn schließlich im Oratorium von San Nicolò. Gegen Mittag wird der Gekreuzigte langsam zur Chiesa San Pietro Apostolo getragen.
Die Kreuzabnahme: S’Iscravamentu
Das Ritual der Kreuzabnahme beginnt mit der Einkleidung der Jünger Jesu in der Kapelle von San Nicolò. Die silberbärtigen „Discipulos“ zeigen sich ergriffen und tief bewegt. In prächtigen, liturgischen Gewändern und ausgerüstet mit langen Leitern, Hammer, Kneifzange und Tragbahre brechen sie um halb acht zur Pfarrkirche auf. Chöre aus vier Sängern begleiten den Schweigemarsch mit polyvokalen Chorälen. Knapp eine viertel Stunde später erreicht der Fackelzug das Gotteshaus.
Hunderte Menschen sind in der Hauptkirche versammelt. Der Priester und die „Discipulos“ sammeln sich zur Liturgie auf dem Altar. Gesänge erklingen, Gebete werden gesprochen, es riecht nach Weihrauch. Die trauernde Gemeinde blickt andächtig und lauscht den Worten des Predigers. Nach der Kanzelrede beginnen die “Discipulos“ Jesus vom Kreuz abzunehmen. Zunächst wird ihm die Dornenkrone abgenommen. Durch ein Tuchband gesichert, werden ihm dann nacheinander mit einer Kneifzange die Nägel aus den Händen und Füßen entfernt. Schließlich wird er am Tuch herabgelassen, auf ein reich geschmücktes Traggestell gelegt und aus der Kirche getragen – zurück ins Oratorium von San Nicolò, das in Scano di Montiferro traditionell als Grab Jesu gilt.
Hinter dem Kreuz marschieren im Schein von Fackeln die Bruderschaften, die Priesterschaft, die Ministranten, die Kommunionskinder und die Chöre. Alle paar Meter singen vier solistische Gesangsstimmen, die sich vereinigen eine einfache Version des Misereres. Dahinter kommt der prächtige Baldachin, der den darunter liegenden Leichnam Jesu schützt, reich mit Blumen und brennenden Kerzen geschmückt. Ein alter Brauch besagt, dass die Lichter nicht ausgehen dürfen, es sei ein schlechtes Omen für das kommende Erntejahr. Heute scheren sich die Prozessions-Teilnehmer allerdings nicht mehr darum. Als der erste Windstoß mehr als die Hälfte aller Kerzen ausbläst, glaubt niemand wirklich daran, dass dies der Landwirtschaft schaden wird. Im Gegenteil: die Dunkelheit ist Teil des Dramas und macht die stille Trauer und den tiefen Schmerz nur noch deutlicher.
Mehr Informationen zu den Chören, den polyvokalen Gesängen und dem Karfreitag auf Sardinien gibt es auf der Homepage der Stiftung Hymnos: www.hymnos.sardegna.it.